Was wäre wenn?

Was wäre wenn?

Menschen mit Behinderung gelten in unserer Gesellschaft als Randgruppe. Obwohl der Gesetzgeber schon Grundpfeiler, die Inklusion vorantreiben sollen, auf den Weg gebracht hat, fehlt es an gelebter Inklusion in Deutschland. Oftmals steht das bestehende System selbst dem inklusiven Ansatz im Weg.

Die folgenden Informationen haben wir durch Recherche sowie einige Gespräche mit Akteur:innen des Systems, u.a. auch von Werkstätten, bestmöglich gesammelt und niedergeschrieben. Wir können eine Fehlerfreiheit nicht garantieren. Dies soll eine neutrale Orientierungshilfe in diesem komplexen Thema sein und jede/n Einzelne/n ermutigen, sich weiter damit zu beschäftigen und mehr darüber zu erfahren.

Entstehung System

In den meisten Kulturen war es gesetzlich erlaubt oder sogar empfohlen, Kinder mitkörperlichen Behinderungen nach der Geburt zu töten. Behinderung wurde als Strafe Gottes empfunden. Die großfamiliären Strukturen lösten sich im 19. Jahrhundert zunehmend auf und innerfamiliäre Pflege und Fürsorge wurde schwieriger. 1958 haben Eltern von Kindern mit Behinderung den Verein der Lebenshilfe in Marburg gegründet. Sie wollten ihre Kinder und Menschen mit Behinderungen aus deren Leben zuhause holen und einen Ort zum Arbeiten für sie schaffen. Zehn Jahre später hatte der Verein bereits über 300 Orts- und Kreisverbände und 38.000 Mitglieder. 18.000 Menschen bewegten sich in Sonderkindergärten, Schulen und Werkstätten. Später gab es auch Angebote der Lebenshilfe zu Plätzen in Wohneinrichtungen.

Abhängig vom Staat

Werkstätten gelten als Non Profit-Unternehmen. Sie zählen damit nicht zum regulären Arbeitsmarkt, sondern sind Teil des sogenannten zweiten Arbeitsmarktes. Arbeitsplätze in den Werkstätten können nur durch Unterstützung öffentlicher Gelder geschaffen werden. Für Werkstätten gelten andere Regeln als für andere Unternehmen. Menschen, die in Werkstätten arbeiten, stehen zum Beispiel nicht in einem regulären Angestelltenverhältnis, sondern in einem sogenannten “arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis”. Diese Einordnung liegt laut dem
BAG WfbM daran, dass Arbeitsplätze in den Werkstätten nicht mit einer wirtschaftlichen Vollzeitstelle vergleichbar sind. Der Verband äußert, dass in den Werkstätten nicht die Arbeit, sondern die Betreuung und
Förderung im Vordergrund stehen. An späterer Stelle, Punkt Entgelt, wird die sehr große Abhängigkeit der Werkstätten vom Staat deutlich erläutert.

Soziales Netzwerk

Werkstätten sind oft der erste Ort, an dem sich ein Mensch mit Behinderung zugehörig fühlt. Dieses Zugehörigkeitsgefühl ist geschichtlich bedingt, denn Menschen mit Behinderung wurden noch vor einigen Jahren in unserer Gesellschaft nicht gesehen und abwertend behandelt. Menschen mit Behinderung sind auch heute noch nicht in unserer Gesellschaft integriert und werden wissentlich aussortiert. Das zeigt die Debatte um den vorgeburtlichen Pränataltest, der als Kassenleistung eingeführt wurde. Viele reden von Inklusion, aber nur selten wird sie im Alltag gelebt. In Werkstätten erfahren Menschen mit Behinderung ein Zugehörigkeitsgefühl, weil sie keiner Stigmatisierung unterliegen. Sie haben ein Netz an unterschiedlichen Menschen und spüren eine Daseinsberechtigung, die ihnen in erster Linie Selbstvertrauen gibt. In Werkstätten entstehen viele Kontakte, Freundschaften und Beziehungen. 

Arbeit

Arbeit definiert sich über monetäre Gründe hinaus. Es geht vor allem darum, einer Beschäftigung im Leben nachzugehen bzw. gebraucht zu werden. Werkstätten geben Menschen mit Behinderung Arbeit. Diese ist vielfältig und variiert, so wie auf dem ersten Arbeitsmarkt auch. In einer Werkstatt arbeiten Menschen, denen eine Erwerbsunfähigkeit bescheinigt wurde. Es gibt in Deutschland ca. 2900 Werkstätten, in denen mehr als 320.000 Erwachsene beschäftigt sind. Davon nehmen knapp 30.000 Menschen Leistungen der beruflichen Bildung in Anspruch und fast 270.000 erhalten Arbeits- und Berufsförderung. Etwa 20.000 Menschen sind so schwer behindert, dass sie einer besonderen Betreuung, Förderung und Pflege bedürfen.

Die Unterschiede der Behinderungen sind vielfältig. Während manche Mitarbeitende eine körperliche Behinderung haben und ihrer Arbeit nachgehen können, gibt es auch sehr viele Menschen mit geistigen Behinderungen, teilweise auch schwerstmehrfachbehinderte Menschen, denen der Arbeitsalltag schwerer fällt. Die Arbeitsatmosphäre in den Werkstätten variiert natürlich von Werkstatt zu Werkstatt, wie auch in Betrieben auf dem ersten Arbeitsmarkt. Wir sind mit verschiedenen Werkstätten in engem Kontakt. Dort gibt es beispielsweise folgende Arbeitsmöglichkeiten: Wäscherei, Catering, Logistik, und in Nürnberg eine Gruppe, die sich z.B. um die Produkte von hejhej Mats kümmert. Dort werden Meditationskissen befüllt, Logos auf Matten genäht, Produkte verpackt und verschickt. Für Mitarbeitende ist es auch jederzeit möglich, die Tätigkeit innerhalb der Werkstatt zu wechseln. 

Förderangebote

In Werkstätten arbeiten rund 70.000 spezialisierte Fachkräfte, die Mitarbeitende mit Behinderung pädagogisch betreuen. Zusätzlich zur täglichen Arbeit gibt es verschiedene Förderangebote. Das können gesundheitliche Angebote wie Logopädie, Ergotherapie oder Sportkurse sein, aber auch berufliche Förderungen wie IHK-Kurse. Darüber hinaus gibt es auch die Möglichkeit, einen Außenarbeitsplatz wahrzunehmen. Das bedeutet, dass Mitarbeitende mit Behinderung zwar im ersten Arbeitsmarkt arbeiten, aber immer noch von der Werkstatt finanziert werden. Leider ist dies aber oft eine Ausnahme und nur sehr wenige Mitarbeitende sind in einem Außenarbeitsplatz tätig.

Zwar vermittelt das Arbeiten auf einem Außenarbeitsplatz mehr berufliche Realität und stärkt das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gesellschaft, doch wahre Inklusion und Gleichberechtigung ist damit nicht völlig erreicht. Bei der Entscheidung, welche Arbeitsform gewählt wird, spielt leider auch immer eine Rolle, wie lange Mitarbeiter:innen vorher in einer Werkstatt tätig waren um ihren Anspruch auf die vorzeitige Erwerbsminderungsrente nicht zu verlieren. 

Außenarbeitsplätze können also ein erster Schritt in Richtung allgemeinem Arbeitsmarkt sein. Ziel sollte aber immer sein, in ein reguläres Arbeitsverhältnis zu führen, um volle betriebliche Gleichberechtigung zu erreichen. Hier greift das sogenannte Budget für Arbeit, welches der/dem ArbeitgeberIn einen staatlichen Lohnzuschuss gibt,
wenn Menschen mit Behinderung im Unternehmen angestellt werden. Leider sind noch viel zu wenig Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt vertreten. Dies liegt u.a. daran, dass z.B. bei dem Modell Budget für Arbeit, der Mitarbeitende, sollte er vorher in einer Werkstatt tätig gewesen sein, seinen vorzeitigen Rentenanspruch (nach 20 Jahren, statt 40 Jahren) verliert. 

Entgelt

Wie bereits erwähnt sind Menschen mit Behinderungen im Arbeitsbereich der Werkstätten in der Regel in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis. Das heißt, sie haben alle Schutzrechte von ArbeitnehmerInnen, aber nicht deren Pflichten. So haben sie z. B. Anspruch auf Urlaub, Mutterschutz oder das Recht auf Teilzeit. Sie können jedoch nur aus außerordentlichen Gründen gekündigt oder abgemahnt werden.  „Zudem haben sie keine geregelte Leistungsverpflichtung wie es sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt.” bagwfbm.de/article/5199

Die Werkstätten zahlen an die im Arbeitsbereich beschäftigten Menschen ein Arbeitsentgelt. Es setzt sich aus einem Grundbetrag in Höhe des Ausbildungsgeldes, das die Bundesagentur für Arbeit nach den für sie geltenden Vorschriften leistet, und einem Steigerungsbetrag zusammen. Die Höhe des Grundbetrages beträgt seit dem 01.01.2021 ca. 99 Euro. Jede Werkstatt hat eine Entgeltordnung. Diese regelt die Verteilung der Entgelte und legt fest, wie sich der leistungsangemessene Steigerungsbetrag bemisst. — Laut Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für
behinderte Menschen e.V. 

In der Regel liegt das Entgelt bei ca. 150-200€ monatlich. Die Kontroverse zum Thema Entgelt ist, dass jeglicher Bonus, Urlaubsgeld oder höhere Entgelte der Werkstätten von der Grundsicherung abgezogen werden. Unter aktuellen Umständen kann ein Mensch mit Behinderung also nicht mehr verdienen und Werkstätten könnten aktuell daran auch nichts ändern.

Hierfür ist es notwendig, dass sich das staatliche System ändert. 

Werkstätten kalkulieren ihre Preise für Dienstleistungen nach dem Mindestlohn, sodass angebotene Preise vergleichbar mit Preisen aus dem ersten Arbeitsmarkt sind. Dienstleistungen der Werkstätten sind also nicht günstiger, was oft vermutet wird. Die Arbeit wird hier unter vielen MitarbeiterInnen aufgeteilt. Werkstätten müssen 70% ihrer Gewinne an MitarbeiterInnen auszahlen. Dies ist zunächst ein sehr positiver Aspekt, allerdings kommt davon nichts bei den Mitarbeitenden an, da der Bonus von der Grundsicherung abgezogen wird. Das ist ein sehr großer Widerspruch und Missstand, der nur staatlich geändert werden kann. 

Vorzeitiger Rentenanspruch

Nach 20 Jahren Tätigkeit in einer Werkstatt haben Mitarbeitende mit Behinderung Anspruch auf eine Rente in Höhe eines durchschnittlichen Facharbeitergehalts. Auf dem ersten Arbeitsmarkt ist dies nach ca. 40 Jahren der Fall. 

ca. 1.200 Euro Leistungen

Insgesamt erhalten MitarbeiterInnen bzw. deren Angehörige ca. 1.200 € netto monatlich. Dieser Beitrag setzt sich aus den staatlichen Sozialleistungen und dem Arbeitsentgelt der Werkstätten zusammen. Der gesamte Betrag kommt von verschiedensten Stellen. Das macht es sehr unübersichtlich und bürokratisch. Werkstätten wünschen sich, dass MitarbeiterInnen alle Leistungen von einer zentralen Stelle bekommen würden. Sie wünschen sich außerdem mehr Einfluss auf die Höhe des Gehaltes. Aktuell sind mehr als die Obergrenze der Leistung in Höhe von ca. 1.200 € netto monatlich nicht möglich, da jeder weitere verdiente Euro von der Grundsicherung abgezogen wird. Der Endbetrag bleibt also gleich.

Leistungsorientierte erste Arbeitswelt

In den aktuell vorherrschenden kapitalistischen und marktwirtschaftlichen Strukturen ist die erste Arbeitswelt extrem leistungsorientiert. Das heißt, Unternehmen wirtschaften mit dem Hauptziel, Gewinne zu maximieren. Ein Wandel zu z.B. einer gemeinwohlorientierten Arbeitswelt, in der soziale und ökologische Ziele einen genauso großen Wert einnehmen wie ökonomische Ziele, scheint einzusetzen. Gemeinwohlorientiertes Wirtschaften wird aktuell nur von einem Bruchteil der Unternehmen umgesetzt, denn auch diese Unternehmen stehen unter wirtschaftlichem Druck. Staatliche Strukturen zur Förderung von sozialen oder ökologischen Zielen würden den Wandel schneller voranbringen. 

Randgruppen

Menschen mit Behinderung gehören immer noch zur Randgruppe. Im Idealfall soll das Leben in einer Gesellschaft so gestaltet sein, dass alle dabei sein können, wenn sie wollen. Egal, bei welcher Aktivität. Menschen mit Behinderung können in unserer Gesellschaft aktuell nicht an jeder Aktivität teilhaben. Diese Teilhabe wird durch physische, strukturelle oder mentale Barrieren verwehrt. Der Gesetzgeber versucht durch verschiedene Gesetze und Vorgaben, Diskriminierung vorzubeugen und Randgruppen aufzubrechen. In Artikel 3 des Grundgesetzes steht seit 1994: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Damit darf der Staat Menschen mit Behinderung nicht anders behandeln als Menschen ohne Behinderung. Im Jahr 2006 kam das Anti Diskriminierungsgesetz” Das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG) hinzu. Das Gesetz verbietet allen Menschen in Deutschland, Menschen mit Behinderung zu benachteiligen. aktion-mensch.de/dafuer-stehen-wir/was-ist-inklusion/hintergrundwissen-inklusion.html 

Dennoch fehlt es an weiteren Strukturen und Berührungspunkten. Im
Folgenden mehr dazu.

Wirtschaftlicher Druck

Alle Unternehmen, die in der freien Marktwirtschaft agieren, unterstehen dem wirtschaftlichen Druck profitabel zu sein und sich gegenüber der Konkurrenz zu behaupten. Sie bekommen zu wenig Förderungen vom Staat, um Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Aktuell werden Sie sogar dabei unterstützt, über
Ausgleichszahlungen* an Werkstätten, die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung zu umgehen. *Normalerweise muss ein Unternehmen ab einer bestimmten Größe Menschen mit Behinderung einstellen. Durch Ausgleichszahlungen an Werkstätten kann dies vermieden werden.

Fehlende Unterstützung

Ein großer Hebel hierbei ist das Implementieren von Strukturen, die verhindern, dass Menschen mit Behinderung systematisch benachteiligt werden. Diese Strukturen können zum Beispiel Anreize für Werkstätten beinhalten, wenn sie Menschen mit Behinderung auf den ersten Arbeitsmarkt vermitteln oder Anreize für Vereine, wenn sie aktiv Menschen mit Behinderung integrieren. Es gibt schon Förderungen für Unternehmen, wenn Menschen mit Behinderung eingestellt werden. Um marginalisierte Gruppen in die Gesellschaft integrieren und Integration voranzubringen, benötigt es alle Akteure. Allerdings wird darüber nicht aktiv informiert, es herrscht mangelnde Kenntnis und ein hoher bürokratischer Verwaltungsaufwand. Die Ausgleichsabgabe zu zahlen, ist oft der günstigere und schnellere Weg für Unternehmen. Es gibt also viele Punkte, bei denen strukturelle Unterstützung dazu beitragen könnte, die Gesellschaft nachhaltig inklusiver zu formen. Daher haben wir im nächsten Punkt ein paar offene Fragen für die Zukunft gestellt.